Die Ampel-Koalition hat ambitionierte Ziele für den Umbau der Nutztierhaltung. Wie sie realisiert werden sollen, ist an vielen Stellen noch unklar. Dabei liegen konkrete Fahrpläne und auch Beschlüsse für noch mehr Tierwohl und Nachhaltigkeit längst auf dem Tisch. Die Politik muss 2022 endlich in die Umsetzung kommen.
Klartext zum Start: Insbesondere in der Tierwohldebatte dürfe die neue Regierung „nicht bei Null anfangen“, mahnte der Präsident des Zentralverbandes der deutschen Geflügelwirtschaft e.V. (ZDG) wenige Stunden, nachdem SPD, Bündnis 90 / Die Grünen und FDP ihren Koalitionsvertrag vorgestellt hatten. Es gelte „umgehend, die Beschlüsse des alten Bundestags und der Agrarministerkonferenz zu den Empfehlungen der Borchert-Kommission umzusetzen“.
Der Hinweis ist vonnöten, weil der Koalitionsvertrag stellenweise wenig von dem aufnimmt, was Experten empfehlen und teilweise bereits politisch beschlossen ist. Ob die heimischen Landwirte die Planungs- und Investitionssicherheit bekommen, die sie für weitere Tierwohl-Fortschritte brauchen, bleibt unsicher. „Wie die Ampel-Koalition die gesetzlichen Rahmenbedingungen für die Transformation der Branche setzt, entscheidet darüber, ob die heimische Nutztierhaltung eine Zukunft hat – oder ob der Standort Deutschland existenziell gefährdet wird“, sagt Ripke. „2022 wird damit zum Entscheidungsjahr für unsere Branche.“
Die folgenden Themen gehören für das neue Jahr im Bereich Agrarpolitik ganz oben auf die Agenda der Bundesregierung.
Tierhaltungs- und Herkunftskennzeichnung: Bitte für alle Fleischarten und Vermarktungswege!
Die Regierungsparteien haben eine „verbindliche Tierhaltungskennzeichnung“ sowie eine „umfassende Herkunftskennzeichnung“ angekündigt. Das ist richtig und wichtig. Die Fleischwirtschaft ist hier schon vor Jahren freiwillig vorangegangen – insbesondere mit der Initiative Tierwohl. In anderen Worten: Tierwohl-Geflügelfleisch für den deutschen Markt ist unmittelbar mit einer heimischen Erzeugung verknüpft. Die neue Regierung ist gefordert, private und staatliche Initiativen zügig und sinnvoll zusammenzuführen.
Das Tierwohl in die Breite zu tragen, ist auch aus Sicht der Geflügelwirtschaft eines der wichtigsten politischen Projekte für das kommende Jahr. Dazu zählt, dass im Einzelhandel künftig nicht nur unbehandelte, sondern auch verarbeitete Fleischprodukte gekennzeichnet werden sollten. Und: Zu einer „umfassenden“ Kennzeichnung gehört unbedingt auch die Gastronomie! Denn hier werden rund 60 Prozent des produzierten Geflügelfleischs verbraucht. Dennoch fehlen bislang auf den meisten Speisekarten Informationen zur Herkunft der Tiere. Das kritisiert auch die überwältigende Mehrheit der deutschen Bevölkerung in einer repräsentativen Umfrage.
Finanzierung des Umbaus der Nutztierhaltung: Ohne staatliche Unterstützung geht es nicht!
Die Koalitionsparteien wollen nach eigener Aussage „Landwirte dabei unterstützen, die Nutztierhaltung in Deutschland artgerecht umzubauen“. Tatsächlich gehört die Geflügelfleischerzeugung in Deutschland bereits zur Weltspitze, was Tierwohl- und Qualitätsstandards angeht. Dass weitere Fortschritte Milliardeninvestitionen erfordern, ist unstrittig. Aber wer soll sie finanzieren? Der Koalitionsvertrag sieht hier allgemein „Marktteilnehmer“ in der Pflicht, der genaue Mechanismus bleibt unklar. „Der Markt alleine wird es nicht richten“, sagt ZDG-Präsident Ripke aus langjähriger Erfahrung. Planungs- und damit Investitionssicherheit für die Betriebe könne nur eine staatliche Tierwohl-Prämie bringen, wie sie auch die Borchert-Kommission als mögliches Finanzierungsinstrument vorgeschlagen hat.
Haltungs- und Erzeugungsstandards: EU-weite Regeln gegen Wettbewerbsverzerrungen!
Für „EU-weit einheitliche Standards“, wie der Koalitionsvertrag sie auch für die Tierhaltung vorsieht, ist es aus Sicht der Geflügelfleischwirtschaft höchste Zeit. Denn auf dem heimischen Markt steigt der Anteil von Billigfleisch aus Ländern, in denen die Tierwohl- und Qualitätsstandards viel niedriger sind als hierzulande. Speziell die deutschen Putenhalter bringt diese Wettbewerbsverzerrung zunehmend in Existenznöte: Die Branche hatte sich im Jahr 2013 freiwillig Haltungsstandards auferlegt, steht damit bis heute aber weitgehend allein da – mit der Folge, dass immer mehr Putenställe leerstehen, beklagt Bettina Gräfin von Spee, Vorsitzende des Bundesverbandes Deutscher Putenerzeuger e.V. (VDP).
Auch ZDG-Präsident Ripke sieht die neue deutsche Agrarpolitik in der Pflicht, nicht etwa zusätzliche nationale Schranken und Auflagen hochzuziehen, sondern die Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Geflügelwirtschaft innerhalb der EU zu stärken – und damit ein weiteres Höfesterben in Deutschland zu verhindern. Ripke: „Die Eigenversorgung mit hochwertigen Lebensmitteln ist nicht nur in Corona-Zeiten, sondern allgemein ein hohes Gut und Gesetzesauftrag jeder Bundesregierung!“
Zielkonflikt zwischen Tierwohl und Klimaschutz: Prioritäten setzen!
In der politischen Diskussion wird häufig der Zielkonflikt zwischen Tierwohl und Klimaschutz übersehen, dem die Tierhalter ausgesetzt sind: Wenn die Tiere länger leben und mehr Platz bekommen, werden auch mehr Futter und mehr Flächen benötigt, und das wiederum treibt die CO2-Emissionen nach oben. Deshalb brauche es seitens der Politik dringend eine „pragmatische Priorisierung der Aufgaben“, sagt ZDG-Präsident Ripke – und verweist darauf, dass auch der Bevölkerung im Zweifel Tierwohlaspekte deutlich vor Klimaschutzanliegen rangieren.
Praktisch heißt das, dass die Politik insbesondere beim aktuellen Bau- und Emissionsschutzrecht nachbessern muss. Denn das gibt bislang de facto dem Klima- und Umweltschutz Vorrang. Die Folge: Die erforderlichen tiergerechten Stallumbauten kommen nicht voran, weil Tierhalter riskieren, keine Baugenehmigungen zu bekommen und den Bestandsschutz für ihre komplette Betriebsstätte zu verlieren.