Dramatische Geflügelpest: „Das macht auch uns Tiermediziner betroffen“

Interview mit Fachtierarzt Dr. Erwin Sieverding

Die Geflügelpest wütet aktuell in deutschen Ställen – mit dramatischen Folgen für Landwirte und ihre Tiere. Ein Veterinärmediziner berichtet von der Situation vor Ort und gibt Tipps zur Virenbekämpfung. 

Dr. Erwin Sieverding leitet eine große Tierarztpraxis im niedersächsischen Lohne bei Oldenburg. Der Fachtierarzt praktiziert seit über 30 Jahren, betreut Geflügel- und Schweinebestände und hat mehrere Bücher sowie Fachartikel zu dem Thema geschrieben. Einen so lang andauernden, heftigen Seuchenzug wie den aktuellen hat er noch nicht erlebt. Wir haben mit ihm gesprochen.

In Deutschland spitzt sich die Lage bei der Geflügelpest (hochpathogene Influenza-Virus-Infektion oder HPAI, Abkürzung für Highly Pathogenic Avian Influenza) aktuell dramatisch zu: Ein Seuchenzug von bislang nicht gekanntem Ausmaß befällt immer mehr Ställe. Wie erleben Sie die aktuelle Welle? Was können Sie vor Ort für die betroffenen Betriebe tun?
Dr. Erwin Sieverding:
Im Gegensatz zu den anderen Jahren mit HPAI-Fällen haben wir seit 2021 eine geänderte Infektionslage. Hatten wir in der Vergangenheit von Ende April bis Anfang November Ruhe, hat sich der Erreger H5N1 in der Wildgeflügelpopulation nun endemisch gehalten. Das heißt, auch im Sommer gab es sporadische Infektionen in der Nutzgeflügelhaltung, und das setzt sich jetzt im Herbst fort. Wir können leider nicht viel mehr tun, als immer wieder darauf hinzuweisen, wie wichtig die Einhaltung von Hygienemaßnahmen ist.
Viele Tiere müssen vorsorglich gekeult werden. Ist das etwas, das Ihnen emotional zusetzt?
Dr. Erwin Sieverding
Für jeden, der mit der HPAI zu tun hat, ist es schlimm, keine hundertprozentige Empfehlung zur Vermeidung einer Infektion ausgeben zu können. Wir erleben teilweise große Hilflosigkeit bis zu Existenzängsten bei den betroffenen Betrieben. Das macht auch uns als Tiermediziner betroffen.
Als Tierarzt sind Sie sicher auch Vertrauensperson für die Landwirte. Welchen Eindruck machen die Geflügelhalter aus den betroffenen Betrieben auf Sie?
Dr. Erwin Sieverding:
Unterschiedlich. Es gibt Tierhalter, die dazu neigen, die Ursache für die Situation als erstes bei sich zu suchen. Diese sind emotional häufig sehr angegriffen, hier helfen klärende Gespräche. Andere Tierhalter, die Emotionen nicht so nahe an sich heranlassen, können mit einer Totalräumung besser umgehen und lenken sich mit dem Blick auf die Zeit nach der Aufhebung aller Restriktionen ab.
Was können Geflügelhalter überhaupt tun, um die Lage in den Griff zu bekommen? Zu welchen Präventionsmaßnahmen raten Sie, um Ansteckungen zu vermeiden?
Dr. Erwin Sieverding:
Hier hat eine Analyse des NGW (Niedersächsischer Geflügelwirtschaftsverband), der Putenbrüterei Kartzfehn und betroffener Tierärzte interessante Hinweise gegeben. Sie haben gemeinsam das Seuchengeschehen 2020/21 auf mögliche Eintragsrisiken in Putenhaltungen untersucht. Dabei kam heraus, dass Standorte in der Nähe von Feuchtgebieten oder Wasseransammlungen eher betroffen waren. Auf Betriebsebene war auffällig, dass Betriebe, in denen Beschäftigte vor Betreten jedes einzelnen Stalles die Schuhe wechselten, weniger betroffen waren.

Da auch die Zuluft eine Eintrittspforte für virusbehaftete Staubpartikel sein kann, kann es das Verbreitungsrisiko reduzieren, wenn die Frischluftzufuhr von der windzugewandten Seite unterbunden wird. Auch die Anbringung von Luftfiltern verringert die Eintragsmöglichkeit. Um virusbehaftete Staubpartikel in Offentränken abzutöten, kann außerdem eine Trinkwasserdauerdesinfektion mit Chlordioxyd oder Virkon H2O Sinn machen.
Die aktuellen Maßnahmen reichen offensichtlich nicht aus, um die Geflügelpest langfristig unter Kontrolle zu bekommen. Die Rufe nach einer Impfung werden lauter – ist das aus medizinischer Perspektive ein richtiger Schritt? Und gibt es weitere Maßnahmen, die von der Politik vorangetrieben werden sollten?
Dr. Erwin Sieverding:
Die Aviäre Influenza ist nach allem, was wir wissen, endemisch in unserer Wildvogelpopulation angekommen. Aus meiner Sicht kommt man deshalb um eine Erweiterung der bisherigen Bekämpfungsstrategie, dem Keulen von positiven Beständen, nicht herum. Die Einbindung einer sogenannten AI-Impfung – zur Vorbeugung und zur Bekämpfung – ist nicht nur aus moralischer und ethischer Sichtweise geboten, sondern auch aus wirtschaftlicher Sicht. Zur Zeit tragen die Tierseuchenkassen und die Ertragsausfallversicherung – falls vorhanden – die Entschädigungskosten. Es ist aber nur eine Frage der Zeit, bis dies auf die Beiträge umgelegt wird.
In einigen Regionen der Welt, in denen AI endemisch ist, wird bereits fleißig geimpft – z.B. in Südostasien, Nordafrika oder Mittelamerika. Warum kommt die EU nicht hinterher?
Dr. Erwin Sieverding:
Zur Zeit sind bei uns keine AI-Impfstoffe zugelassen. In einem ersten Schritt muss die EU die Weichen dafür stellen: Für geimpfte Tiere müssen die gleichen innereuropäischen Handelswege gelten. Die PCR-Testtechnik, die sich in der Corona-Pandemie bei Menschen bewährt hat, kann auch bei Geflügel zum Einsatz kommen, um zweifelsfrei Influenzavirus-RNA nachzuweisen.

Nur wenn die EU sehr zeitnah die Bedingungen, die an eine AI-Schutzimpfung gebunden sind, überarbeitet, werden sich Firmen finden, die AI-Impfstoffe weiterentwickeln und auf den europäischen Markt bringen.

Die Voraussetzung für ein sicheres und einfaches DIVA-Konzept (DIVA = Differentiating Infected from Vaccinated Animals), das für einen freien Warenhandel erforderlich ist, gibt es. Auch, dass die EU schnell handeln kann, hat Corona gezeigt. Also – warum starten wir nicht?
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