Dafür, dass Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir sich „Tag und Nacht“ für die im Koalitionsvertrag versprochene Herkunftskennzeichnung einsetzt, wie er vor einiger Zeit beteuerte, kommt er damit erschreckend schlecht voran. Aus Frust – oder ist es schon Verzweiflung? – über den ausstehenden EU-einheitlichen Entwurf aus Brüssel rief Özdemir jüngst „verschiedene Akteure in der Agrarpolitik“ dazu auf, den Druck auf die EU-Kommission zu erhöhen. Bedenklich, dass die deutsche Bundesregierung dort offenbar selbst nicht genug Gehör findet.
Deutlich mehr (Eigen-)Initiative zeigt das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) bei seiner „Ernährungsstrategie“, die bis Ende des Jahres erarbeitet wird und der Bevölkerung eine vermeintlich gesündere und nachhaltigere Ernährungsweise nahebringen soll. Eine wichtige Rolle dabei spielt die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE), die im Geschäftsbereich des BMEL angesiedelt ist und gerade ihre lebensmittelbezogenen Verzehrempfehlungen überarbeitet. Diese sorgen in Medien und Öffentlichkeit für kontroverse Diskussionen, seit bekannt wurde, dass die DGE womöglich eine radikale Reduktion des Fleischkonsums – bei Geflügelfleisch auf weniger als ein Gramm pro Tag – empfehlen wird. Das stünde in krassem Kontrast zu ihren aktuell gültigen Verzehrempfehlungen.
Zwar hat der DGE-Präsident zwischenzeitlich versucht, die Wogen zu glätten: Es habe sich bei den vorab bekanntgewordenen Richtwerten um Berechnungen aus einer „Betaversion“ gehandelt. Doch das macht die DGE nicht gerade glaubwürdiger. Warum ihr Vorgehen in Begründung und Methodik aus Sicht der Geflügelwirtschaft absolut unverständlich ist und politische Motive vermuten lässt, erklären wir in dieser Ausgabe unseres News-Pickers. Man kann sich des Eindrucks nicht erwehren, dass der Kurs der DGE, auch wenn er nicht vom BMEL direkt „inspiriert“ sein mag, diesem doch mindestens äußerst gelegen kommt.
Dabei muss man nicht erst den Vorwurf vermeintlicher Ess-„Verbote“ an die Adresse der Bundespolitik bemühen: Auch mit „Empfehlungen“ oder „Strategien“ üben sie und die ihr zuarbeitenden Institutionen Druck auf die Bevölkerung aus, sich in gewünschter Weise zu verhalten. Ganz offensichtlich wird dies spätestens, wenn die Politik sich Bio- und Veggie-Quoten in Restaurants und Kantinen vornimmt oder der Bundeslandwirtschaftsminister wiederholt mit der Idee sympathisiert, die Mehrwertsteuer auf Obst und Gemüse abzuschaffen und den Fleischkauf damit abzustrafen.
Auch wenn wir inhaltlich nicht damit übereinstimmen mögen: Eine ernährungspolitische Agenda zu verfolgen, steht der Politik zu. Sie sollte dieses Motiv aber zumindest transparent machen, anstatt mündige Verbraucherinnen und Verbraucher hinters Licht zu führen.
Ich wünsche Ihnen eine anregende Lektüre.
Ihr Friedrich-Otto Ripke
Im Fokus: Ernährungsstrategie und -empfehlungen
Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) hat unter anderem die Aufgabe, wissenschaftlich fundierte Verzehrempfehlungen zu entwickeln und herauszugeben – und zwar unabhängig und transparent. Weil die aktuell gültigen Empfehlungen den Aspekt der Nachhaltigkeit zu wenig berücksichtigen, arbeitet die Gesellschaft zurzeit an einer Aktualisierung. Doch ihr Vorgehen wirft Fragen auf.
Im April dieses Jahres hat die DGE Akteuren aus Ernährungs- und Landwirtschaft, Wissenschaft und Verbraucherschutz die Möglichkeit gegeben, einen Einblick in den Aktualisierungsprozess zu erhalten und die geplante neue Berechnungsmethodik im Rahmen einer „öffentlichen Kommentierung“ zu bewerten. Diese Anpassungen der Methodik haben das Ziel, neben dem Faktor Gesundheit auch den Aspekten Umwelt und Soziales in der Ernährung Rechnung zu tragen, was prinzipiell zu begrüßen ist. Doch die konkreten Kriterien, die die DGE hierfür anlegt, und die bekannt gewordenen Berechnungsmodelle haben die Fleischwirtschaft im Allgemeinen und auch die Geflügelbranche alarmiert.
Weniger als ein Gramm Geflügelfleisch pro Tag?
Der Grund: In den vorgestellten Modellierungen empfahl die DGE einen teils drastisch reduzierten Fleischverzehr. Demnach sollte jeder von uns nur noch maximal 10 Gramm Fleisch pro Tag essen, für Geflügel kam das DGE-Team sogar auf eine Empfehlung von weniger als ein Gramm pro Tag. Zum Vergleich: Die aktuell gültigen „lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen“ der DGE beinhalten einen Fleischverzehr von – je nach Intensität der körperlichen Beschäftigung – 300 bis 600 Gramm pro Woche, also bis zu 86 Gramm pro Tag.
Woher der Sinneswandel gegenüber den aktuellen, evidenzbasierten Empfehlungen des eigenen Hauses? Die fragwürdige Begründung der Forscherinnen und Forscher dafür, den Geflügelfleisch-Verzehr auf fast Null zu setzen: Zum einen seien Nährstoffe und Proteine, die das Geflügel liefern würde, schon von anderen Lebensmittelgruppen abgedeckt, die dafür einen niedrigeren Umwelt-Fußabdruck hätten. Außerdem bestehe bei der Fütterung von Geflügel eine direkte Nahrungskonkurrenz zum Menschen. Beides ist aus Sicht des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) sachlich unbegründet: Gerade die Geflügelproduktion weist im Vergleich zu anderen Fleischarten und insbesondere im Verhältnis zu den erzeugten wertvollen Nährwerten eine ausgesprochen günstige Klimabilanz auf (nachzulesen hier). Und der Mythos einer Nahrungskonkurrenz, der im Zuge der „Teller-Trog-Debatte“ immer wieder aufgewärmt wird, ist unserer Meinung nach längst entzaubert (nähere Informationen sind hier zu finden).
Nachhaltigkeitsdimensionen unvollständig abgebildet
Entgegen ihrem Anspruch, der Multidimensionalität des Themas gerecht zu werden, hat die DGE zudem nur wenige Facetten von Nachhaltigkeit in ihre Berechnungen einbezogen: Sie betrachtet die Emissionen und die Landnutzung bei der Produktion bestimmter (tierischer) Lebensmittel – der Frischwasserverbrauch beispielsweise bei der vegetarischen oder veganen Produktion wird dagegen ausgeklammert. Und auch der Faktor „Tierwohl“ bleibt außen vor, weil er sich schlecht für die Verwendung in quantitativen Modellen „operationalisieren“ lasse. Bei beiden Kriterien kann heimisches Geflügel nachweislich punkten: einerseits durch eine moderne, ressourcenschonende Produktion und kurze Transportwege – andererseits durch eine verantwortungsvolle Geflügelhaltung mit freiwilligen Tierwohl-Standards, die mit zu den höchsten weltweit zählen.
Die Frage nach der Unabhängigkeit
All dies wirft die Frage auf: Lässt die DGE, die überwiegend von Bund und Ländern finanziert wird und projektbezogene Fördermittel erhält, sich politisch instrumentalisieren? Auffällig ist, dass die Aktualisierung der Ernährungsempfehlungen in eine Zeit fällt, in der das grün geführte Bundeslandwirtschaftsministerium an einer „Ernährungsstrategie“ arbeitet. Diese soll der Bevölkerung eine vermeintlich nachhaltigere und gesündere, „pflanzenbetonte“ Ernährung nahelegen (Näheres dazu im nachfolgenden Beitrag). Die aktualisierten DGE-Ernährungsempfehlungen spielen hierbei eine wichtige Rolle, denn sie sollen in der Gemeinschaftsverpflegung verpflichtend umgesetzt werden.
Zwar beteuerte DGE-Präsident Professor Bernhard Watzl kürzlich, dass die bekannt gewordenen Richtwerte lediglich einer „Betaversion“ entstammten und sich daraus keine Rückschlüsse auf die finalen Ernährungsempfehlungen ziehen ließen. Doch es ist nicht davon auszugehen, dass die DGE bis zur Veröffentlichung der Empfehlungen Anfang 2024 abermals eine Kurswende vollzieht, die ihre Glaubwürdigkeit als unabhängige Institution zusätzlich beschädigen würde. „Es zeichnet sich bereits ab, dass die Empfehlungen zukünftig einen noch höheren Anteil an pflanzlichen Lebensmitteln enthalten werden“, heißt es denn auch auf der Website der DGE zum Stand der Aktualisierung. Lebensmittel tierischen Ursprungs würden „weiterhin die Auswahl ergänzen“.
Aus Sicht des ZDG ist zu hoffen, dass sie dies auch künftig in einem Umfang tun, der der Nachfrage der Bevölkerung und insbesondere der essenziellen Bedeutung von Geflügelfleisch für eine ausgewogene und nachhaltige Ernährung Rechnung trägt. „Die Erfüllung der Referenzwerte zur Nährstoffzufuhr darf nicht in einen Zielkonflikt mit anderen Nachhaltigkeitsdimensionen geraten“, sagt Wiebke von Seggern, Leiterin des Bereichs Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz im Zentralverband der deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG) (hier geht es zum Interview mit Frau von Seggern). Es gelte, „eine qualitativ und quantitativ ausreichende Ernährung als Grundrecht eines jeden Menschen stets in den Vordergrund zu stellen – mit Geflügelfleisch als elementarem Bestandteil“.
Er wolle den Menschen nicht vorschreiben, was sie essen sollen, wiederholt Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Doch die vielfachen politischen Initiativen für „pflanzenbetontes“ Essen und insbesondere die Ernährungsstrategie der Bundesregierung senden eine klare Botschaft an die Bevölkerung, welches Essverhalten politisch gewünscht ist.
Es war wohl der Versuch, als leuchtendes Beispiel für die Ernährungsmission der Bundesregierung voranzugehen – und er ging nach hinten los. Vor kurzem brachte eine Kleine Anfrage der Unionsfraktion im Bundestag zutage, dass bei Veranstaltungen des Bundeslandwirtschaftsministeriums (BMEL) in der Regel nur noch vegetarische Gerichte, und zwar aus 100 Prozent ökologischer Produktion, angeboten werden dürfen. Für eine Verpflegung mit Fleisch bei Hausveranstaltungen bedarf es Medienberichten zufolge einer internen Sondererlaubnis. Im Bundesumweltministerium (BMUV) sowie im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) wird es ähnlich gehandhabt.
In Medien und Politik entbrannte daraufhin eine hitzige Debatte um das vermeintliche Fleischverbot im kompletten BMEL-Betrieb, das angeblich in diesem Ausmaß nicht zutrifft. Dennoch: „Die Initiative passt ins Bild einer ideologisch getriebenen Agrarpolitik mit erhobenem Zeigefinger – und zwar in Richtung aller, die aus Überzeugung, Tradition oder einfach Freude am Genuss Fleisch essen und dies auch weiterhin tun wollen“, kritisiert Wolfgang Schleicher, Geschäftsführer des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG). Der Minister sende damit nicht zuletzt „ein verheerendes Signal an heimische Geflügelfleischproduzenten, die seit Jahr und Tag die Ernährung der Bevölkerung mit einem wertvollen, verantwortungsbewusst produzierten Lebensmittel sichern“.
„Änderung von Ernährungsweisen“ ist Teil des Programms
Das Fundament dieser Agrarpolitik findet sich im Koalitionsvertrag: Darin kündigt die Bundesregierung eine sogenannte Ernährungsstrategie an, mit der eine „gesunde Umgebung für Ernährung und Bewegung“ geschaffen werden soll. In diesem Zusammenhang ist unter anderem das Ziel aufgeführt, „den Anteil regionaler und ökologischer Erzeugnisse entsprechend unserer Ausbauziele (Anm. d. Red: 30 Prozent Ökolandbau bis zum Jahr 2030) zu erhöhen“. Die Bundesregierung will außerdem „pflanzliche Alternativen“ stärken und sich für die „Zulassung von Innovationen wie alternative Proteinquellen und Fleischersatzprodukten in der EU“ einsetzen.
Laut BMEL soll „die Änderung von Ernährungsweisen auch einen wesentlichen Beitrag zum Klima- und Artenschutz leisten“. Besonders im Auge hat die Politik hier die Gemeinschaftsverpflegung, etwa in Kitas, Schulen, Mensen und Kantinen, Pflegeeinrichtungen oder Krankenhäusern. „Die außerhäusliche Verpflegung soll auf diesem Weg als Vorbild für gesunde Ernährung wirken und stärker pflanzenbetont aufgebaut sein.“ Die Deutsche Gesellschaft für Ernährung (DGE) steuert hierfür demnächst die „lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen“ bei (s. vorheriger Beitrag), die in der Gemeinschaftsverpflegung verpflichtend umgesetzt werden müssen.
„Bürgerrat Ernährung und Wandel“ soll beteiligt werden
Die Eckpunkte für die Ernährungsstrategie hat das Kabinett Ende 2022 beschlossen, Ende dieses Jahres soll sie verabschiedet werden. Um die Entwicklung der konkreten Leitlinien und Maßnahmen auf eine „breite gesellschaftliche Basis“ zu stellen, soll ein wissenschaftlich begleiteter „Bürgerrat Ernährung im Wandel“ aus 160 ausgelosten Bürgerinnen und Bürgern voraussichtlich ab September über diese Themen diskutieren und dem Bundestag im Februar 2024 ein „Bürgergutachten“ dazu vorlegen.
„Wenn sie es mit dieser Bürgerbeteiligung ernst meint, muss die Bundesregierung dafür sorgen, dass der Rat a) einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbildet und b) dessen Meinung auch wirklich gehört wird“, sagt ZDG-Geschäftsführer Schleicher. Für die breite Bevölkerung sei entscheidend, aus einer Angebotsvielfalt von – bezahlbaren – Lebensmitteln, inklusive Fleisch, auf Basis transparenter Informationen bewusst wählen zu können. „Und das geht nur, wenn die Politik auch die versprochene umfassende Herkunftstransparenz bei Fleisch herstellt – doch hier zeigt sie leider nicht annähernd das gleiche Tempo wie bei ihrer Ernährungsmission“, so Schleicher. Aus seiner Sicht ist die Agrarpolitik bislang nicht von den Bedürfnissen und Wünschen der Bevölkerungsmehrheit getrieben, sondern von den Interessen einer überschaubaren Öko-Klientel.
Eine Realitätsferne, die zulasten des Tierhaltungsstandorts Deutschland geht – und die das BMEL auch bei seiner Veranstaltungs-Speiseplan-Initiative zu spüren bekommt: Laut Bericht von agrarheute hat das BMEL wegen seiner strengen Catering-Vorgaben keinen Betreiber für seine Berliner Cafeteria mehr. „Auf die eng gefassten Vorgaben der Ausschreibung hat sich bislang niemand erfolgreich beworben.“
Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz – für diesen wichtigen Bereich hat der ZDG mit Wiebke von Seggern eine eigene Expertin an Bord. Im Interview erläutert die Agrarwissenschaftlerin, was sie bei ihrer Arbeit antreibt und warum die Geflügelfleischproduktion alle Dimensionen der Nachhaltigkeit bedient.
Nicht nur hochwertig, sondern auch nachhaltig: Mit ihren Erzeugnissen leistet die deutsche Geflügelwirtschaft einen wertvollen Beitrag für die Ernährungssicherung. Die ambitionierten Nachhaltigkeitsziele der Branche gilt es stets weiterzuentwickeln – und ihre Vorreiterrolle in der öffentlichen Wahrnehmung sichtbarer zu machen. Als Bereichsleiterin für Nachhaltigkeit, Klima- und Umweltschutz kümmert sich Wiebke von Seggern um genau diese Aufgaben. Wir wollten von der Niedersächsin wissen, was sie bei ihrer Arbeit antreibt, welche Hemmnisse sie für die Branche sieht – und wie sie die lebensmittelbezogenen Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) bewertet, die diese zurzeit aktualisiert.
Frage: Frau von Seggern, wie sind Sie zu Ihrer heutigen Aufgabe gekommen?
Wiebke von Seggern: Ich war zuletzt als Referentin für Vieh- und Fleischwirtschaft beim Deutschen Raiffeisenverband tätig und konnte umfangreiche Erfahrung in der Interessensvertretung der genossenschaftlichen Unternehmen gegenüber Politik, Wirtschaft und Öffentlichkeit sammeln. Die agrarwirtschaftliche Interessenvertretung in der Verbandsarbeit und insbesondere das Netzwerken mit relevanten Stakeholdern hat mir schon immer viel Freude bereitet. Meine Leidenschaft für die Geflügelwirtschaft und der Wunsch nach einer beruflichen Weiterentwicklung führten mich zu meiner heutigen Position.
Frage: Welchen Bezug haben Sie zur Geflügelwirtschaft generell und zum Thema Nachhaltigkeit speziell?
von Seggern: Die Leidenschaft zum Geflügel habe ich meinem elterlichen Background zu verdanken. Ich bin auf einem Familienbetrieb mit Putenmast, Schweinemast, Ackerbau und Dammwildhaltung im Landkreis Oldenburg in Niedersachsen aufgewachsen. An der Universität in Göttingen habe ich meinen Bachelor in Agrarwissenschaften absolviert, an der Universität in Vechta anschließend den Master. Bereits im Studium habe ich mich mit dem Thema Nachhaltigkeit beschäftigt und meine Masterarbeit zum Thema Nachhaltigkeit in der Putenhaltung verfasst. Umso mehr freut es mich, im Rahmen meiner neuen Tätigkeit auch das zweite Standbein zu Hause – die Geflügelhaltung – im politischen Berlin zu vertreten.
Frage: Warum ist die Geflügelproduktion so nachhaltig?
von Seggern: Die Mitgliedsunternehmen leisten schon heute mit der Produktion von Geflügelfleisch einen vielfältigen Beitrag für die Ernährungssicherung und Nachhaltigkeit. In der Geflügelwirtschaft liegen Nachhaltigkeitsmaßnahmen im ureigenen betriebswirtschaftlichen Interesse, etwa wenn durch niedrigeren Energie- und Wasserverbrauch Kosten gesenkt werden können. Der Fokus liegt auf ressourcenschonendem Handeln entlang der gesamten Wertschöpfungskette. Eine nachhaltige Geflügelwirtschaft stellt sicher, dass die Tiere artgerecht und respektvoll gehalten werden. Freiwillige Vereinbarungen und Brancheninitiativen sorgen für immer mehr Tierwohl in der Haltung. Die Geflügelwirtschaft nutzt Ressourcen wie Wasser, Energie und Futter besonders effizient und vereint Prinzipien der Kreislaufwirtschaft mit Konzepten der Regionalität. So trägt die Geflügelfleischerzeugung mit einem kleinen CO₂-Fußabdruck zu einer guten Ökobilanz bei. Darüber hinaus leistete die Geflügelwirtschaft mit 9,5 Milliarden Euro Bruttowertschöpfung im Jahr 2022 einen wichtigen ökonomischen Beitrag zur Volkswirtschaft und ist insbesondere im ländlichen Raum mit 170.000 Arbeitsplätzen ein wichtiger Arbeitgeber. Damit kann die Geflügelfleischproduktion alle drei Dimensionen der Nachhaltigkeit bedienen.
Frage: Welche politischen Weichenstellungen wünschen Sie sich, um dem Thema mehr Sichtbarkeit zu geben?
von Seggern: Im Rahmen der Farm2Fork-Strategie und des Green Deals wird das Thema Nachhaltigkeit auf EU-Ebene vorangetragen. Durch die neue EU-Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung (CSRD) werden ab 2025/26 immer mehr Unternehmen verpflichtet sein, nachhaltiges Engagement auch nachzuweisen. Es ist wichtig, dass Regierungen regulatorische Rahmenbedingungen schaffen, die Nachhaltigkeitsstandards in der Geflügelwirtschaft fördern. Aber permanent neue Gesetze, Verordnungen und Erlasse sowohl international als auch national, verbunden mit einem Übermaß an Bürokratie, sind aus meiner Sicht der stärkste Bremsklotz für eine nachhaltige Wirtschaft in Deutschland. Unsere Unternehmen brauchen vernünftige, verlässliche und europaweit einheitliche Rahmenbedingungen. Das bedeutet konkret, dass keine nationalen Alleingänge betrieben werden, wie beispielsweise mit dem Eckpunkte-Papier in der Putenhaltung. Weniger Wirtschaftspolitik und mehr Flexibilität sichern die Wettbewerbsfähigkeit unserer Unternehmen.
Frage: Es zeichnet sich ab, dass die aktualisierten Ernährungsempfehlungen der Deutschen Gesellschaft für Ernährung (DGE) einen deutlich reduzierten Fleischkonsum vorsehen werden. Warum wird diese Empfehlung dem Nahrungsmittel Geflügelfleisch nicht gerecht?
von Seggern: Die DGE wird nach allem, was wir wissen, empfehlen, den Fleischkonsum insgesamt zu reduzieren und den Anteil pflanzlicher Lebensmittel zu erhöhen – wie stark, ist aktuell noch nicht klar, die DGE hat die bekannt gewordenen Richtwerte zwischenzeitlich relativiert. Gewiss ist aber: Eine ausgewogene Ernährung basiert auf Vielfalt – und Geflügelfleisch ist Teil dieser gesunden Ernährung. Geflügelfleisch hat im Vergleich zu rotem Fleisch in der Regel einen niedrigeren Fettgehalt und einen höheren Proteingehalt. Es ist auch eine gute Quelle für Nährstoffe wie Eisen, Zink, Vitamin B12 und Vitamin D. Darüber hinaus enthält Geflügelfleisch weniger gesättigte Fettsäuren, die mit einem erhöhten Risiko für Herz-Kreislauf-Erkrankungen in Verbindung gebracht werden. Zu Recht ist Geflügelfleisch beliebt. Der Pro-Kopf-Verbrauch von Geflügelfleisch lag 2022 bei 21,4 kg, und durchschnittlich hat jeder Deutsche 238 Eier konsumiert – Tendenz steigend.
Der Gegencheck
Frage: „Geht es Puten in Deutschland aufgrund fehlender gesetzlicher Haltungsstandards schlecht?“
Teile von (Agrar-)Politik und Gesellschaft vertreten offenkundig die Auffassung, dass verantwortungsvolles Handeln von Wirtschaftsakteuren erst einsetzt, wenn die Politik dies mit gesetzlichen Regulierungen erzwingt. Ein verheerender Irrglaube, den die deutsche Putenwirtschaft existenzbedrohend zu spüren bekommt – in Form von ideologisch motivierten Gesetzesinitiativen ohne jeden Bezug zum Stand der Wissenschaft oder zur Realität in der Tierhaltung.
Richtig ist, dass es speziell für die Putenhaltung bisher keine spezifischen gesetzlichen Haltungsstandards gibt, die über die allgemeinen Regelungen des deutschen Tierschutzgesetzes hinausgehen. Seit vielen Jahren setzen sich unsere Betriebe jedoch für möglichst EU-einheitliche Regeln ein – für weitere Tierwohl-Verbesserungen auch jenseits deutscher Grenzen, und nicht zuletzt für einen fairen Wettbewerb der Putenfleisch-Erzeuger im Binnenmarkt. Weil diese einheitlichen Bedingungen bis heute nicht vorliegen, hat sich die deutsche Branche vor mehr als zehn Jahren freiwillig Haltungsstandards gegeben: die sogenannten „Bundeseinheitlichen Eckwerte“. An ihrer Entwicklung waren nicht nur Tierhalter, sondern auch Wissenschaftler, Tierschutzorganisationen sowie Vertreter aus den Bundesländern sowie aus dem damaligen Bundeslandwirtschaftsministerium beteiligt.
Herzstück der „Puteneckwerte“ ist die Einführung eines Gesundheitskontrollprogramms: In dessen Rahmen werden konkrete Tierwohl-Indikatoren erhoben und bewertet und bei Bedarf mit betriebsspezifischen, von Tierärzten begleiteten Maßnahmenplänen umgesetzt. Betriebe, die daran teilnehmen, dürfen Puten mit Besatzdichten von bis zu 58 kg pro Quadratmeter (Hähne) bzw. 52 kg pro Quadratmeter (Hennen) halten. Diese freiwilligen Standards sind in der Branche heute etabliert und haben dazu geführt, dass das Tierwohl-Niveau, bei sinkendem Antibiotika-Einsatz, über die vergangenen Jahre deutlich gesteigert werden konnte. Sie haben für die Kontrollbehörden rechtsähnlichen Charakter, in Dänemark wurden sie sogar in eine Verordnung überführt.
Aus Sicht der Putenwirtschaft ist es deshalb völlig unverständlich, warum das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) mit seinen „Eckpunkten“ zur Putenhaltung gesetzliche Haltungsstandards verfolgt, die gegenüber diesen bewährten und tierwohlgerechten Standards nochmals massive Verschärfungen vorsehen. Insbesondere die Besatzdichten sollen in diesem Zusammenhang nochmals deutlich auf 35 kg bis 40 kg pro Quadratmeter gesenkt werden – dabei ist wissenschaftlich erwiesen, dass das Tierwohl nicht nur von der Besatzdichte, sondern einer Vielzahl von Faktoren abhängt.
„Die Umstellung unserer Branche auf die Bundeseinheitlichen Eckwerte war eine Pionierleistung zugunsten des Tierwohls und der Nachhaltigkeit, die wir keine Sekunde bereuen“, sagt Bettina Gräfin von Spee, Vorsitzende des Verbandes Deutscher Putenerzeuger (VDP). Die geplanten zusätzlichen Auflagen setzten diese Errungenschaften jedoch aufs Spiel: Ihre Umsetzung würde heimisches Tierwohl-Fleisch nicht nur für Verbraucher unerschwinglich machen, sondern aufgrund massiver Kostensteigerungen in der Produktion das Aus für die heimische Putenhaltung bedeuten. „Dann landet auf deutschen Tellern noch mehr Putenfleisch ausländischer Billigimporteure, die häufig unter schlechteren Haltungsbedingungen produzieren“, so Gräfin von Spee. „Das kann unmöglich das Ziel des Bundeslandwirtschaftsministeriums sein. Die Tierwohl-Verantwortung deutscher Politik endet nicht an unseren Landesgrenzen!“
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