Es hat für fachfremde Politiker, die in das Amt des Bundeslandwirtschaftsministers einsteigen, sicher schon ruhigere und einfachere Zeiten zum Warmlaufen gegeben. Russlands abscheulicher Krieg gegen die Ukraine erfordert Problembewältigung auf unerwarteten Feldern: Cem Özdemir und sein Haus haben das Thema Versorgungssicherheit auf dem Tisch, ebenso die kniffelige Frage, ob und wie gegen krisenbedingte Preisexplosionen bei Vorleistungsgütern (Futter, Energie) und bei Endprodukten (Lebensmittel) vorzugehen ist.
Doch darf das agrarpolitische Großprojekt – der Umbau der Nutztierhaltung am Standort Deutschland – zugunsten akuten Krisenmanagements nach hinten geschoben werden? Mitnichten. Klug umgesetzt, macht es den Fleischerzeugungsstandort Deutschland zukunftsfest – und schiebt übertriebenen Preissprüngen für Fleisch in Kühlregalen und Frischetheken einen Riegel vor. Dem Bundesminister ist anzurechnen, dass er scheinbar grundsätzlich verstanden hat: Das Projekt Haltungskennzeichnung nimmt Fahrt auf. Grund genug für uns, mit diesem Newsletter die bisher bekannten Eckpunkte kritisch und konstruktiv zu bewerten.
Aus unserer Sicht überraschend: die große Distanz zu der umfangreichen und konkreten Blaupause des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung. Die Expertenrunde, der ich selbst angehöre, hatte interdisziplinär einen Umbaufahrplan erarbeitet, den der Bundestag, die Agrarministerkonferenz und auch die Zukunftskommission Landwirtschaft mitträgt. Selten gab es für ein agrarpolitisches Großvorhaben mehr Schulterschluss aller relevanten Akteure.
Es wäre ein Armutszeugnis für Deutschland, wenn diese guten Ideen und Maßnahmen regierungstaktisch unter den Tisch fielen, nur weil die versammelten Experten den ehemaligen CDU-Landwirtschaftsminister Jochen Borchert zum Vorsitzenden hatten und die Kommission von der Vorgängerregierung beauftragt wurde. Allein um weiteren Zeitverlust zu vermeiden, der viele Nutztierhaltungsbetriebe die Existenz kosten wird, müssen die Bundesregierung als Exekutive und, wenn nötig, der Bundestag als Legislative mit eigener Initiative für zeitnahe Umsetzung sorgen. Dabei geht es nicht darum, die Nische Bioproduktion zukunftssicher zu machen, sondern der ganzen Breite der deutschen Nutztierhaltung Planungssicherheit zu geben.
Bitte lassen Sie uns zeigen: Deutschland kann Krisen bewältigen, ohne die nötigen Weichenstellungen für eine nachhaltige Zukunft aus dem Blick zu verlieren.
Ihr Friedrich-Otto Ripke
Im Fokus: Umbau der Tierhaltung
Die ersten Eckpunkte des Bundeslandwirtschaftsministeriums für ein verbindliches Kennzeichnungssystem sind zu wenig passgenau: Sie fokussieren auf Haltungs- statt auf Tierwohlaspekte. Unsere Handlungsempfehlungen im Überblick.
Das Bundeslandwirtschaftsministerium (BMEL) plant bei der verbindlichen staatlichen Kennzeichnung ein vierstufiges System, das sich am Modell der Eierkennzeichnung (sog. KAT-System) orientiert: Die Stufe 0 steht für „Bio“, Stufe 1 für „Auslauf“, 2 für „Außenklima“ und 3 für „Stall“. Dabei handelt es sich noch um ein Eckpunkte-Papier des Bundesministeriums und nicht um einen im Bundeskabinett verabschiedeten Gesetzentwurf. Dieser muss nach Geschäftsordnung vorher auch noch durch den Koalitionsausschuss, und unsere Hoffnung ist, dass die FDP und möglicherweise auch die SPD ihrer Verantwortung nachkommen und den Entwurf so nicht passieren lassen.
Die Verwunderung über den Özdemir-Vorschlag ist allgemein groß, denn bislang galt das im Lebensmitteleinzelhandel bereits breit etablierte System der Initiative Tierwohl (ITW) als Vorbild – mit den Stufen „Stallhaltung“ (1), „Stallhaltung Plus“ (2), „Außenklima“ (3) und „Premium“ (4). Auch das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung, bekannt als Borchert-Kommission, orientiert sich daran in seinem detaillierten Umbaufahrplan: Die Stallhaltung Plus sollte in einem dreistufigen System zum Mindeststandard der Stufe 1 werden, die über dem Gesetzesstandard und auch über dem ITW-Standard liegen soll. 2030 und 2040 kämen dann schrittweise die nächsten Kriterien-Steigerungen, und die Praxis könnte sich planungssicher und rechtzeitig darauf vorbereiten. Dieser vorgezeichnete Weg ist alternativlos, und Bundesminister Özdemir kann ihn, wenn er davon abweicht, nur schlechter und zum Irrweg machen.
Bedarf für Nachbesserungen
Der Präsident des Zentralverbandes der Deutschen Geflügelwirtschaft (ZDG), Friedrich-Otto Ripke, findet klare Worte zu den bisherigen Ministeriumsplänen: „Wir können die Vorschläge so nicht mitgehen, weil wir damit nicht die ambitionierte Tierhaltungskennzeichnung bekommen, für die wir seit Jahren einstehen und die wir schon sehr breit praktizieren“. Der Grund: Die Kategorie „Stall“ würde durch Özdemir in der Wahrnehmung des Verbrauchers zum untersten Standard degradiert, obwohl hier differenziert werden muss – auch in Ställen ist eine tierwohlgerechte Haltung möglich und in der Geflügelhaltung auch üblich. Ripke weiter: „Die Ampelkoalition hat sich vorgenommen, Tierwohl zu fördern. Aber wer, wie offensichtlich Teile der Grünen, starr nach Haltungsformen einsortieren will, erweist der Sache einen Bärendienst.“
Die zentralen Argumente im Einzelnen:
1. Warum die Eierkennzeichnung nicht als Vorbild bei Fleisch taugt
Die niedrigste Qualitätsstufe 3 im EU-weit gültigen KAT-System sind Eier aus Käfighaltung. Mit dieser negativ konnotierten Bezeichnung war von Anfang an das politische Ziel verbunden, diese Haltungsform schnell zu überwinden, was auch gelungen ist. Beim Fleisch sind die Haltungsformen anders kategorisiert, und der Begriff „Stall“ hat hier eine andere Bedeutung: So fallen bereits mehr als 80 Prozent des hierzulande erzeugten Hähnchen- und Putenfleischs in die Haltungsformstufe 2 („Stallhaltung Plus“) der ITW – mit deutlich mehr Platz in den Ställen und umgeben von organischem Beschäftigungsmaterial wie z.B. Stroh und Picksteinen.
ZDG-Präsident Ripke sagt: „Wenn dieses Tierwohlfleisch künftig in einer allgemeinen und stark stigmatisierenden Kategorie ‚Stall‘ untergeht, sind alle bisherigen Anstrengungen zunichtegemacht, möglichst viele Verbraucher bei den Fortschritten mitzunehmen.“ Sie kaufen diese Lebensmittel mit ihrem akzeptablen Aufpreis seit Jahren bewusst.
Auch die Tierhalter, die eigenes Geld in die Hand genommen haben, werden enttäuscht und trotzig reagieren. Trotz hieße in diesem Fall: Rückkehr zur Produktion unter dem alten Gesetzesstandard mit höheren Tierzahlen. In der Folge wird dann wiederum die Politik versucht sein, die Vorgaben drastisch anzuheben. „Das wäre das Ende der internationalen Wettbewerbsfähigkeit der deutschen Nutztierhaltung und damit auch der Offenbarungseid für die nationale Versorgungssicherheit mit tierischen Lebensmitteln“, betont Präsident Ripke: „Ein solcher Teufelskreis darf niemals in Gang kommen!“
2. Warum Tierwohl in der Stallhaltung sichtbar werden muss
Stattdessen muss es auch im geplanten staatlichen Kennzeichnungssystem eine Stufe geben, die den Stall-Plus-Gedanken des bisher freiwilligen Systems aufnimmt: Die Tiere wachsen zwar im Stall auf, aber unter Bedingungen, die deutlich über den gesetzlichen Vorgaben liegen. Ein entscheidender Faktor ist der Platz. In der aktuellen „Stallhaltung Plus“-Stufe sind als maximale Besatzdichte für Hähnchen 35 kg/m2 festgelegt. Damit ist das Ende der Fahnenstange noch nicht erreicht. In der Borchert-Kommission und in der ITW laufen Planungen, die Besatzdichte weiter zu senken – wahrscheinlich auf 33 kg/m2 bei Hähnchen. Gegenüber der EU-Norm, die bei 42 kg/m2 liegt, hätte ein Tier in Deutschland im Schnitt rund 30 Prozent mehr Platz. „Wir legen beim Tierwohl gerade in dieser Stufe den Schwerpunkt, denn sie wird auch in den nächsten Jahren sicher die breiteste Kauf-Akzeptanz finden“, sagt Ripke: „Für viele Verbraucher mit kleinerem Geldbeutel sind diese Produkte vom Preisniveau noch leistbar und die aktuell weiter steigende Inflationsrate wird die Nachfrage nach teuren Lebensmitteln der hohen Stufen und auch nach Bio-Produkten spürbar begrenzen.“
Diese Entwicklung hat aktuell messbar schon begonnen! Auch Bundesminister Özdemir darf dies nicht ignorieren und muss ein Interesse daran haben, ein Kennzeichnungssystem für die Breite mit großer Menge zu schaffen und nicht in einer kleinen Nische stecken zu bleiben. Er muss auch bedenken, dass mit den höheren Kennzeichnungsstufen geringere Tierzahlen verbunden sind. Im Geflügelbereich gibt es schon jetzt keine nationale Selbstversorgung mehr und jede Steigerung in diese Richtung löst nachteilige Importe aus.
3. Warum „Bio“ per se keine Tierwohlkategorie ist
Für die Ökoverbände ist es ein lang gehegter Wunsch, eine eigene Haltungsstufe auch bei Fleisch zu erhalten. Davon war womöglich auch das grüne Bundeslandwirtschaftsministerium bei der Formulierung seiner Kennzeichnungs-Eckpunkte geleitet. Nur: Von Sachgründen ist das Ansinnen nicht gedeckt. Das Kompetenznetzwerk Nutztierhaltung hat detaillierte Tierwohlkriterien für jede Stufe erarbeitet und vorgeschlagen, die höchste Kategorie weiter mit dem Begriff „Premium“ zu kennzeichnen. „Bio“ wählten die Experten bewusst nicht, auch wenn sie attestieren, dass „Premium“ sich weitgehend an den Haltungskriterien des ökologischen Landbaus orientieren soll. Warum? Weil Bio nicht automatisch und pauschal mit mehr Tierwohl verbunden ist. Wir und die Wissenschaft wissen, dass zum Beispiel Freilandhaltung auch mit höheren Risiken durch Umwelteinflüsse, Schädlinge und Tierseuchen verbunden ist. ZDG-Präsident Ripke: „Die höchste Qualitätsstufe beim Fleisch muss deshalb auch für Produkte aus konventioneller Erzeugung geöffnet sein, wenn sie die definierten Tierwohlanforderungen erfüllen.“
Ohne staatliche Absicherung läuft jede ambitionierte Tierwohlkennzeichnung ins Leere. Das Ringen um das beste Instrument dauert an, und das schon viel zu lange. So oder so: Unsere Landwirte brauchen Verlässlichkeit in der Finanzierung ihrer Mehrkosten.
„Ohne gesicherte Finanzierung gibt es statt Tierwohlfortschritt Höfesterben und steigende Importe minderwertiger Lebensmittel. Genau hier liegt die hohe Verantwortung des Bundeslandwirtschaftsministers. Hoffentlich nimmt er diese wahr und ernst“, bringt ZDG-Präsident Friedrich-Otto Ripke seine Sorgen zum Ausdruck. Der Umbau der Nutztierhaltung in Deutschland kostet Milliarden. Die Halter müssen ihre Ställe tierwohlgerecht umbauen oder ganz neu errichten. Auch die laufenden Kosten steigen, weil unter anderem mehr Einstreu und Beschäftigungsmaterialien für die Tiere nötig sind. Zudem haben die Landwirte einen höheren Aufwand für Tierbetreuung und Management. „Politik und Verbraucher haben inzwischen verstanden, dass mehr Tierwohl eben nicht mit ein paar Handschlägen erledigt und quasi zum Nulltarif zu haben ist“, sagt Stefan Teepker, Vorsitzender des Bundesverbands bäuerlicher Hähnchenerzeuger (BVH) und Vize-Präsident im ZDG.
Ein Einstieg – immerhin
Die Kostenschätzung des Kompetenznetzwerks Nutztierhaltung von Februar 2020 ist im vergangenen Frühjahr im Rahmen einer Machbarkeitsstudie gegengecheckt und bestätigt worden. Der Gesamtförderbedarf für Investitionen und eine weitgehende Abdeckung der laufenden Kosten liegt für alle Tierarten bei rund 4,1 Milliarden Euro pro Jahr. Das Bundeslandwirtschaftsministerium hat zur Anschubfinanzierung des Umbaus für die nächsten vier Jahre Mittel in Höhe von insgesamt einer Milliarde Euro eingestellt. Teepker sagt: „Die Richtung stimmt, aber es kann nur der Einstieg sein.“ Die Lücke bleibt auch dann noch gewaltig, wenn die Beiträge der Handelsunternehmen und der Vermarkter im Rahmen des freiwilligen Kennzeichnungsprogramms Initiative Tierwohl einbezogen werden: Rund 1,2 Milliarden Euro kommen hier für Geflügel- und Schweinehalter über eine neunjährige Förderphase bis 2023 zusammen. Die Wirtschaft hat sich also schon deutlich engagiert und die Politik muss nun folgen!
Bürokratiefragen
Eine mengenbezogene Tierwohlabgabe für Verbraucher, die bei den Haltern als Tierwohl-Prämie ankommt, ist für die Geflügelwirtschaft das favorisierte Finanzierungsinstrument: Durch die Zweckbindung erhalten die Landwirte die Gewissheit, dass sie getätigte Investitionen in mehr Tierwohl dauerhaft ausgeglichen bekommen. Der Vorschlag, die Mehrwertsteuer von 7 auf 19 Prozent zu erhöhen, wäre zwar einfacher in der finanztechnischen Umsetzung, wird aber von der FDP in der Koalition nicht mitgetragen. „Mit einer Scheindebatte in diese Richtung geht weiter wertvolle Zeit verloren, die wir nicht mehr haben, sagt Verbandspräsident Ripke.
Realistisch betrachtet müssen wir die verursachergerechte mengenbezogene Tierwohlabgabe mit klaren Bagatellregeln schnell praktikabel machen. Das gerade auslaufende EEG-Modell für den Aufpreis bei Strom liefert diesbezüglich wertvolle Hinweise. Wir haben der Bundesregierung dazu schon vor mehr als einem Jahr ein juristisches Fachgutachten vorgelegt.
Sicherheit über 20 Jahre
„Bei der Finanzierung der Mehrkosten muss sichergestellt sein, dass Landwirte die laufenden Tierwohl-Prämienzahlungen über die Abschreibungsdauer eines Stalls erhalten“, sagt Ripke: „Ohne diese Verlässlichkeit – am besten über 20 Jahre – lässt sich verständlicherweise kein Halter auf den Umbau ein.“ Umbauen wird im Übrigen erst möglich, wenn es dafür Baugenehmigungen gibt. Die mit mehr Tierwohl verbundene Öffnungsklausel für das Bau- und Immissionsschutzrecht muss ebenso kommen wie die sichere Finanzierung. Sie wird sich nur schwer auf ein Haltungskennzeichen beziehen können. Sie braucht juristisch zwingend den Bezug auf konkrete Haltungs- und Tierwohlkriterien, wie sie die Borchert-Kommission empfohlen hat. Ripke: „Bundesminister Özdemir ist uns diese noch schuldig!“
Keine „Fleischsteuer“
Der Präsident warnt zudem davor, mit der Umbaufinanzierung letztlich eine weitere ideologisch motivierte Konsumlenkung betreiben zu wollen. Hintergrund: Sozialverbände und Nicht-Regierungs-Organisationen machen sich seit Kurzem dafür stark, die Mehrwertsteuer auf Obst, Gemüse und Hülsenfrüchte zur Entlastung von Haushalten von derzeit sieben Prozent auf Null zu senken. Der grüne Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir reagiert positiv, weil er vermeintlich eine „gesunde Ernährung“ gefördert sieht. Doch zu einer gesunden Ernährung gehört mehr: Gerade Geflügelfleisch liefert nachweislich hochwertiges Eiweiß und andere Nährstoffe, die bei einer rein pflanzlichen Ernährung fehlen. Ripke stellt klar: „Wir machen kein falsches Spiel mit, bei dem die grüne Politik die gezielte Mehrwertsteueranpassung nach oben zur ‚Fleischsteuer’ deklariert – und mit der parallelen Senkung für nicht tierische Produkte unter dem Beifall von Vegetariern und Veganern versucht, den Lebensmittelmarkt einseitig aktiv zu verändern. Mündige Verbraucher werden das – wie schon einmal beim Veggie-Day von Renate Künast 2013 – auch nicht gutheißen oder mitmachen.“
Der Putenhalter Eik Theuerkauf hat seine Ställe schon vor Jahren auf eigene Rechnung tierwohlgerecht umgebaut. Nun könnte sich sein Unternehmermut auszahlen – weil Handelsketten auf höhere Haltungsformstufen setzen. Doch es gibt noch Fragezeichen.
Die Entscheidung fiel vor über zehn Jahren. „Ich war damals schon überzeugt, dass der Weg in der Putenhaltung am Standort Deutschland nur in eine Richtung führen kann: Die Tiere brauchen noch mehr Platz, mehr Auslauf und mehr Bewegung“, erzählt Eik Theuerkauf. An drei Standorten rund um das sachsen-anhaltinische Neuenhofe zieht er vier Mal im Jahr rund 48.000 Putenhähne und -hennen auf. Die Umbauten waren umfangreich; Die geschlossenen Stallanlagen mussten aufgebrochen werden, fast fünf Meter breite Wintergärten wurden angebaut. Seine Puten haben seitdem ein noch attraktiveres Platzangebot und Außenklima.
Zukunftsinvestition im wahrsten Sinne des Wortes
Dafür ging der gelernte Landwirt Theuerkauf in Vorleistung. Insgesamt rund 400.000 Euro kosteten die Stallerweiterungen zu Mastbedingungen, die der heutigen Haltungsformstufe 3 entsprechen. Zurückgeflossen ist davon bislang nichts. „Denn es gab keine Abnehmer, weil der Lebensmitteleinzelhandel keine Verkaufschancen sah“, erzählt der 53-Jährige. Damit er mit der Putenhaltung nicht ins Minus rutscht, stallt er mehr Tiere ein und verkauft auf dem Niveau der Haltungsstufe 2. Dass seine Puten sich überdacht draußen bewegen, bekam er bisher nicht vergütet.
Jetzt endlich könnte es so kommen, wie von Anfang an geplant: Theuerkauf zieht in ein paar Wochen erstmals Puten „offiziell“ auf der Haltungsstufe 3 groß – und erzielt erstmals auch den entsprechenden Erzeugerpreis. Er registriert mit Genugtuung, dass die Verbrauchernachfrage nach noch tierwohlgerechterem Fleisch steigt und, dass auch die Supermarktketten das Angebot kontinuierlich ausweiten. Sein Abnahmevertrag steht seit Mitte vergangenen Jahres.
Und dennoch bleibt eine große Unsicherheit. Denn Mitte 2021 war der russische Angriff auf die Ukraine nicht abzusehen. Theuerkauf sagt: „Der Krieg wirbelt alles durcheinander und hat auch in der Landwirtschaft vieles auf den Kopf gestellt.“ Die Futterpreise sind binnen Wochen um 40 Prozent gestiegen. Flüssiggas, mit dem viele Tierhalter ihre Ställe gerade für die Jungtiere heizen, ist fast 300 Prozent teurer geworden. Theuerkauf hat dabei noch Glück im Unglück: Sein Betrieb braucht weniger Gas als viele andere, weil er die Abwärme der eigenen Biogasanlage nutzt.
Halten auch andere den Haltungswechsel durch?
Er hat schon durchgerechnet. Um die drastisch gestiegenen Betriebskosten in der Putenhaltung auszugleichen, müsste der Erzeugerpreis pro Kilogramm Lebendgewicht um 60 Cent steigen. Im Moment erhalten die Landwirte auf der Stufe 2 rund 1,60 Euro pro Hahn, bei Hennen liegt der Preis minimal darunter. Auf einen Aufschlag von 30 Cent haben sich Vermarkter und Lebensmitteleinzelhandel schon geeinigt. „Wir alle hoffen, die restlichen 30 Cent in den nächsten Wochen auch noch erstattet zu bekommen“, sagt Theuerkauf.
Die bange Frage mit Blick auf seine gerade erreichte Neuausrichtung in der Erzeugung: Wird im Zuge des allgemeinen Preisanstiegs das Fleisch der Haltungsstufe 3 am Ende womöglich so teuer, dass die anziehende Nachfrage doch wieder bröckelt? Theuerkauf: „Ich setze darauf, dass Handel und Verbraucher den vielfach propagierten Haltungswechsel tatsächlich durchhalten.“
Der Putenhalter aus Sachsen-Anhalt hat Ausdauer – das hat er zehn Jahre lang bewiesen. Rückendeckung kommt auch von der Familie. Seine inzwischen erwachsene Tochter hatte sich als Jugendliche schon über den Ausbau der Ställe mit Wintergärten gefreut. „Papa, es ist gut, dass wir es anders machen“, lautete ihr Kommentar damals.
Die Ampelkoalition will die verpflichtende Kennzeichnung von Fleisch in Restaurants und Kantinen auf die lange Bank schieben. Die Schweiz setzt genau die seit Jahrzehnten um. Ein Besuch beim Schweizer Gastronomen Fabian Aegerter, der sich über Deutschlands Zurückhaltung nur wundern kann: „Die Kennzeichnung bringt Vorteile für Gastronomie und Landwirtschaft.“ Schauen Sie selbst!
Die Green-Deal-Pläne der EU galten lange als unumstößlich – mit dem Ukraine-Krieg und der daraus folgenden Debatte um die Ernährungssicherheit und Produktionskapazitäten suchen EU-Kommission und etliche Mitgliedsstaaten nach Ergänzungen, die Pragmatismus anstelle von Ideologie in den Mittelpunkt rücken. Deutschland gehört bislang nicht dazu.
Auf dem Weg zur Klimaneutralität in Europa soll auch die Agrarpolitik ihren Beitrag leisten. 50 Prozent weniger Pestizide, 20 Prozent weniger Dünger und deutlich mehr Ökolandbau sind die zentralen Pfeiler dieses „Green Deals“. Das dazugehörige Zehnjahres-Programm trägt den Titel „Farm to Fork“ – auf Deutsch sinngemäß: „Vom Hof auf den Teller“. Die erste Antwort der EU-Kommission auf den Ukraine-Krieg und damit verbundene drohende Verknappungen war Ende März eine Ausnahmegenehmigung für die Bewirtschaftung ökologischer Vorrangflächen: Hier dürfen sämtliche Getreidesorten auch unter Verwendung von Pflanzenschutzmitteln angebaut werden.
Während beispielsweise Frankreich 300.000 Hektar per Dekret für den Anbau komplett frei gab, stand Deutschland auf der Bremse. Die ökologischen Vorrangflächen bleiben hierzulande zur Erzeugung von Nahrungsmitteln gesperrt. Lediglich die Futternutzung und vorgezogene Beweidung sind in diesem Jahr zur Entlastung der Agrarmärkte erlaubt. Der weitgehende Ansatz der anderen sei, so befand Bundeslandwirtschaftsminister Cem Özdemir, für „die Biodiversität eher kritisch zu sehen“.
Manövriert sich Deutschland damit innerhalb der EU zunehmend ins Abseits? Der Vorschlag von Özdemirs französischem Amtskollegen Julien Denormandie: Der im Green Deal verankerte Wandel der Landwirtschaft zu mehr Schutz von Klima, Umwelt und Natur müsse um die zusätzliche Vision einer gesicherten Lebens- und Futtermittelproduktion ergänzt werden. „Produzieren und Schützen“ sieht Denormandie als Gebot der Stunde. Es ist nicht das erste Mal, dass das Nachbarland sich als Antreiber erweist. Bei der Einführung einer Herkunftskennzeichnung von Fleisch in der Gastronomie setzte Frankreich auf eigene Faust eine fortschrittliche Regelung als „Projekt“ um, um nicht in Konflikt mit EU-Vorgaben zu geraten.
Auch auf EU-Ebene gibt es reichlich Bewegung. Der EU-Kommissar für Landwirtschaft und ländliche Entwicklung, Janusz Wojciechowski, ist inzwischen der festen Überzeugung, dass die EU ihre Nahrungsmittelproduktion künftig steigern müsse. Und: Klimakommissar Franz Timmermann hat die Vorstellung zwei zentraler Gesetzesprojekte der Farm-to-Fork-Strategie – zum Pestizideinsatz und zur Renaturierung landwirtschaftlicher Flächen – um Monate verschoben. Brüssel will mehr Klarheit gewinnen, welche Folgen der Krieg tatsächlich mit sich bringt.
Der Gegencheck
These: „Aus Getreide entsteht immer besser Brot als Fleisch!“
Die Forderung, statt Futterweizen für Tiere verstärkt Brotweizen für Menschen anzubauen, hat aufgrund des Kriegs in der Ukraine wieder Konjunktur. Doch die jahrzehntelang geführte Teller-Trog-Debatte geht an der Wirklichkeit vorbei. Fakt ist: Fast 60 Prozent der heimischen Getreideflächen dienen dem Anbau von Tierfutter. Bei der populären Forderung nach der Umwidmung von Ackerflächen werden jedoch vier wichtige Fakten vergessen.
Erstens: Über die Verwendung der landwirtschaftlichen Flächen entscheidet nicht Ideologie. Maßgeblich sind regionale, strukturelle und klimatische Bedingungen wie die Bodenbeschaffenheit, Witterung und die Qualität der Ernte. Je nach Klassifikation und Qualität des Weizens eignet sich der Rohstoff für Tier oder Mensch – die Ansprüche an Nahrungsweizen für die Bevölkerung sind besonders hoch.
Zweitens: Futterweizen erfährt durch seinen Einsatz für ein höherwertiges Tierprodukt eine zusätzliche Aufwertung – man spricht hier von „Veredelung“. Besonders in puncto Nährstoffgehalt ist das proteinreiche Geflügelfleisch, Brot klar vorzuziehen. Professor Wilhelm Windisch, Experte für Tierernährung an der TU München, verweist darauf, dass bereits kleine Mengen Fleisch ausreichen, um die Lücken der Eiweißqualität veganer Eiweißquellen auszugleichen. Allein ein wertvolles 100-Gramm-Stück Geflügelfleisch kann 47 Prozent des Eiweiß-Tagesbedarfs einer Frau decken.
Drittens: Die Landwirtschaft, bestehend aus Pflanzen und Tieren, bildet eine komplexe Kreislaufwirtschaft mit der sogenannten „nicht essbaren Biomasse“ als Bindeglied: Bei der Erzeugung von einem Kilogramm pflanzlicher Lebensmittel fallen rund vier Kilogramm für den Menschen nicht konsumierbare Biomasse an. Nutztiere können diese effizient verwerten und ein für den Menschen höherwertiges Lebensmittel produzieren. Das ist der erste Schritt des Kreislaufsystems, um dem Boden die entzogenen Pflanzennährstoffe zurückzuführen.
Viertens: Die Rückführung als Dünger. Die Ausscheidungen von Geflügel werden als wertvoller und nachhaltiger Dünger eingesetzt. Der dadurch entstehende fruchtbare Boden kann wiederum für Getreideanbau verwendet werden.
Fazit: Pflanzliche Lebensmittel und Nutztiere stehen nicht in Konkurrenz zueinander. Die Nahrungsproduktion ist ein fein ausbalanciertes Gesamtsystem, das beide Erzeugungswege braucht und ohne das die Nutztierhaltung nicht funktionieren würde.
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Vertreten durch:
Michael Steinhauser, Bereichsleiter Kommunikation